BLEISTIFTGEFLUESTER:
Viele - die meisten - der Zeichnungen tragen kein Datum.
Darf ein Graphit-Tagebuch undatierte Blätter enthalten?
Viele - die meisten - der Zeichnungen tragen kein Datum.
Darf ein Graphit-Tagebuch undatierte Blätter enthalten?
Diese Frage taucht während der Vorbereitung der Ausstellung immer wieder auf. Ich erinnere mich der gelegentlichen Lektüre meiner alten Tagebücher in Schriftform. Die Wochentage, Monate, manchmal die Feiertage bringen hin und wieder ein momentbezogenes Kolorit in die Wiederwahrnehmung der festgehaltenen Erlebnisse. Doch das wesentliche sind die Erlebnisse selbst - auch sie sind momentbezogen, das spüre ich beim Lesen, der Tanz der Schrift gibt mir Auskunft über das Tempo, die Grundstimmung, den Grad an Klarheit beim Schreiben… und so ist es auch bei diesen Zeichnungen, dem BLEISTIFTGEFLÜSTER. Einige Blätter enthalten akribische Details, in denen viel Zeit und Liebe steckt, miniatureske Areale oder - seltener - aufwendige Schraffuren, andere sind im Minutentempo hingeworfen, als eine Geste, oder besser gesagt: Aus einer Geste (nämlich einer der Wahrnehmung und des Empfindens) heraus.
(Die Frage, wann ein Blatt - oder eine Zeichnung - entstanden ist, erscheint vor diesem Hintergrund eher pedantisch, scheint aus einem akademischen Dokumentationsethos begründet oder gar aus einer Verantwortlichkeit, die ihren Ursprung vielleicht im kriminalistischen oder schulmedizinischen Denken hat...)
Diese blitzartigen Momentaufnahmen der inneren, manchmal auch der äusseren Wirklichkeit benötigten viel Liebe, viel kontinuierliche Zuneigung, wie heranwachsende Kinder, um sich entwickeln zu können, ganz allmählich eine Aura erstrahlen zu lassen und sich zunehmend behaupten zu können als etwas, was zu recht nicht im Altpapier gelandet ist in den nachfolgenden tausendzwei- drei- fünfhundert Wochen bis zum heutigen Tag, zum Jetzt…
Die mechanisch-reproduktive Adaption der Zeichnungen stellt einen Weg dar, weitere Arbeitskraft hineinfließen zu lassen in das kleine energetische Feld, das jedes Blatt für sich darstellt; die Richtung der Bildbearbeitung ist wiederum aus der Intuition hervorgegangen, wenn nicht ohnehin bereits der erste kontrastierende oder schärfende Bearbeitungsschritt eine farbliche Direktion vorgegeben hat. Der Auflösungsgrad - 300 Bildpunkte pro Zoll - hat sich als ideal erwiesen, um der Maschine farbliche Ebenen abzuluchsen, die aus dem innern der Programmierung zu entspringen scheinen, sobald sich eine Tendenz zum Ablösen einer Farbebene gezeigt hat, habe ich versucht, die daraus hervorgehende Tiefenwirkung des Bildes und die Dramatik des Kontrastes und des ungleichen Dialoges zwischen Schwärze und Farbe zuzuspitzen. Im glücklichsten Fall ist daraus eine ideale Balance hervorgegangen, so dass sich beim besten Willen nicht entscheiden lässt, welche Version, welcher Aggregatzustand einer Zeichnung mehr Gültigkeit hat. Ist es das Original, oft schon in etwas mitgenommen Zustand (denn ich habe es ja überallhin mitgenommen in diesen Jahren)? Oder ist es die Bildbearbeitung, in der ein anderes Potenzial des Bildes auftaucht, in der eine Zeitbrücke über zwanzig Jahre gespannt ist, aus denen das Produkt hervorgegangen ist?
Die Zeit der Zeichnung in ihrer flüchtigen, situativen, alltagsbezogenen, manchmal lapidaren Entstehung - "Zeichnung" wäre hier zu verstehen im Sinne der Tätigkeit, des Zeichnens; welchselbige Vokabel mir jedoch zu aktiv und künstlerisch klingt gegenüber dem substantivischen "-ung"-Wort.
Und die Zeit des Vertiefens, des Überhöhens, des Interpretierens, des Transformierens, womöglich auch des Pervertierens…
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